Montag, 22. August 2016

Auf Erkundungstour


Lange ist es nicht mehr hin, dann bin ich schon drei Wochen in Lateinamerika. Noch immer passieren mir Sachen, die wie ein mentales Signalschild auf mich deuten und rufen: Du bist keine Argentinierin. So passierte es mir am Mittwoch, dass ich zur Mittagszeit verdutzt vor den verschlossenen Türen eines Sportgeschäfts stand, welches erst nach 16 Uhr wieder aufmachte (und das nachdem ich sonst wie weit zu Fuß dahin marschiert bin, weil sich mir das Busnetz immer noch nicht erschlossen hat). Doch obwohl es ununterbrochen neue Eindrücke gibt, die auf mich einprasseln, lebe ich mich langsam ein.

So überraschte mich es auch nicht mehr, dass wir eineinhalb Stunden auf einen Bus warten mussten und ich habe mir eine gewisse Geduld antrainiert. Man sollte es nicht annehmen, doch sind die Leute in der Uni ziemlich pünktlich. Das uns in Deutschland bekannte akademische Viertel später auftauchen gibt es nicht. So kam es nicht selten vor, dass ich eine der letzten war, die auftauchten und den Anfang der Vorlesung verpasste. 
Das vorletzte Wochenende, welches Montag einen Feiertag des hoch angesehenen San Martín miteinschloss, war geschmückt mit vielen interessanten Ereignissen.


Am Sonntag zog es uns auf ein kulinarisches Fest namens „Semilla“. Es gab diverse Stände mit verschiedensten Lebensmitteln (oft auch mit Kostproben- was mich besonders glücklich stimmte) und mehrere Life-Kochshows, bei denen das Publikum im Anschluss probieren konnte. Meine Augen konnten sich kaum satt sehen. Für mich war das echt ein tolles Erlebnis. Während wir dort waren, führte ich auch ein Gespräch mit der Eventmanagerin, die mir anbot, dass ich insofern ich mich für Feste wie diese begeistere mich sogar an der Planung des nächsten Events beteiligen könnte. Mal schauen, ob ich Zeit dafür finde.






Ein Suchbild: Wo sind wir?





Während Lore und ich letzten Montag auf einen Bus warten mussten, verwickelte uns eine Mapuche-Frau (Mapuche= lit. übersetzt Menschen der Erde; ein indigenes Volk) in ein Gespräch, in dem wir einiges über die tragische Situation der ehemaligen Bewohner Patagoniens erfuhren. So wurden die Mapuche Ende des 19. Jahrhunderts in einem Wüstenfeldzug von General Julio Roca, der sogenannten „conquista del desierto“, gnadenlos abgeschlachtet und aus ihren Gebieten vertrieben. Aus diesem Grund sind die Städte in den Gebieten Neuquén, Río Negro, etc. noch relativ jung. Die Meinungen zu der „Annexion Patagoniens“ (ein extremer Euphemismus) sind gespalten. In vielen geschichtlichen Texten wird das Thema zwar angeschnitten, aber kein großer Fokus auf die indigene Bevölkerung gelegt.

Wunderschöne Gravierungen in Mate-Bechern auf dem Kunstmarkt

Unser Ausflug führte uns in die Nachbarstadt Cipolletti, wo wir einen Kunstmarkt besuchten. Hier kaufte ich mir einen Behälter zum Mate-Trinken (ein Gefäß, welches aus einem ausgehölten Flaschenkürbis hergestellt wird), auf dem extra für mich „Argentinia“ eingraviert wurde. 

Grafiti an einer Wand in Cipolletti


Wie die Sardinen in der Dose - im Bus auf der Rückfahrt nach NQN

Direkt im Anschluss, als wir nach Neuquén zurückkehrten, wurden wir Zeugen eines Weltrekordversuchs. Bei einem Straßenfest, das nicht nur Lifemusik, Motorräder, getunete Autos, Bands und Kampfsportaufführungen zu bieten hatte, sollten 90m an Torten sollten nebeneinander aufgestellt werden. Anschließend wurden diese teilweise verkauft, um Spenden für eine Organisation für Kinder zu sammeln. Ich hatte das Glück, dass ich die gleiche Torte im Blick hatte, wie ein anderes Mädel, was dieses auch schnell feststellte, als sie mich fragte, welche von den Torten ich mir denn ausgesucht hätte. Das Resultat war, dass sie die gesamte Torte, mit dem Ziel sie an die Mitglieder ihrer NGO-Gruppe zu verteilen, kaufte. Die Gruppe war überaus freundlich, und gaben mir ein riesengroßes Stück ab, als sie meinen traurigen Blick sahen, mit dem ich die vor meinen Augen weggekaufte Torte verfolgte. Sie machten sogar ein Foto, wie ich da glücklich mit meinem Stück bei ihnen stand. Was für ein wohltätiges Handeln!








Unter der Woche hatte ich verhältnismäßig wenig Stress, da Montag Feiertag war und Donnerstag mein regulär unifreier Tag ist. Dies ermöglichte es mir, mich voll und ganz darauf zu konzentrieren Sportkurse zu belegen. So gehe ich jetzt zum Kickboxen, Volleyball und zweimal die Woche schwimmen. Am Freitagmorgen wurde für uns (damit meine ich mich und die anderen ausländischen Studenten) ein Willkommenstreffen der Uni veranstaltet. Da wir nur insgesamt 3 (eine Brasilianerin, ein Spanier und ich) waren, war das alles sehr persönlich und in einer gemütlich entspannten Runde. Wir bekamen sogar ein kleines Willkommenspaket, darunter auch ein T-Shirt mit dem Uni-Logo. Leute, die gerade aus dem Ausland wiederkamen präsentierten ihre Erlebnisse und berichteten von ihren Erfahrungen. Mir war es dann total peinlich mich in einem Interview vorstellen zu müssen (und das, obwohl ich noch nicht davon in Kenntnis gesetzt wurde, dass das mitsamt Fotos am nächsten Tag in der Zeitung landen würde…). Davor dachte ich mir noch, als ich nichtsahnend den Raum mit der Kamera betrat, dass es total freundlich von Helios (der spanische Austauschstudent) war, dass er von seinem Stuhl aufsprang und ihn mir anbot. Misstrauisch wurde ich erst, als er die Beine in die Hand nahm und blitzschnell aus dem Raum verschwand, um mich dem Schicksal zu überlassen, das ihn sonst ereilt hätte.

Am See Pelligrini - Cinco Saltos

Meine Suche nach neuen Freunden war auch nicht erfolglos, denn ich habe dieses Wochenende viel mit neuen Leuten gemacht. Ein Kommilitone lud mich zum Haus am See „Pelligrini“ ein, wo wir die eindrucksvolle Landschaft zu Fuß erkundeten. Der See erinnerte mich ziemlich an die Ostsee (wobei ich mir nicht ganz sicher bin, ob es der See an sich war, oder die kühlen Temperaturen) und ich fühlte mich wie zu Hause.


Was mich jedoch erschütterte, waren die Müllberge, die auf der Strecke zum Fluss in mein Blickfeld traten. Wie kann es sein, dass Leute mit ihren Autos in die Steppe fahren und unkontrolliert ihren Müll abladen? Es ist eine Schande, dass die Regierung nichts dagegen unternimmt. Immer mehr ärgert es mich, wie die Menschen die Natur zerstören: Zum einen das Fracking, zum anderen das Müllproblem… Doch ist das nicht das einzige, was nicht ordentlich funktioniert.


Als wir durch die Bardas (so nennt sich die Hügellandschaft, die sich in der Nähe meines Hauses befindet) schlenderten und uns unterhielten, begleitete uns ein herrenloser Hund, den ich am liebsten adoptiert hätte, aber leider darf ich keine Haustiere halten. Ein interessantes Gespräch informierte mich über die Zustände in Gefängnissen und Arbeit bei der Polizei, was hier anscheinend ein Beruf ist, bei dem man ziemlich gut verdient. Ich erfuhr, dass es nicht nur in Buenos Aires extra Abteile in Gefängnissen für Schwule gibt; dass sich einige Insassen versuchen umzubringen, indem sie ihre Matratze in Brand stecken und die Aufseher trotz versuchter Rettung selbst im Gefängnis landen; dass über nicht bestandene Aufnahmetests kulant hinweggesehen wird, wenn man genug Kontakte hat und und und…

Am Nachmittag wollte ich zusammen mit Jessica, der brasilianischen Austauschstudentin und ihren Freunden an den Fluss gehen und Mate trinken. Nachdem wir am Fluss entlang spazierten und uns niederließen, stellten wir fest, dass wir das Trinkröhrchen und den Becher vergessen hatten, sodass wir das Mate-Trinken in ihr Haus verschoben. Da gab es dann sogar Facturas (Blätterteiggebäck) und verbrachten den Abend bei ihr. Mein Repertoire an spanischen und portugiesischen Liedern steigt stetig an. Jessica lehrte uns sogar Samba zu tanzen, bzw. versuchte sie es. 

Vor meiner Fakultät - The spring is coming!
Es ist ziemlich witzig argentinische Frauen über argentinische Männer sprechen zu hören und anders herum. Es wird oft behauptet, dass argentinische Männer „chamullero“ sind, was heißen soll, dass sie den Frauen das Blaue vom Himmel herunter reden. Ich nehme an, dass das stimmt, wenn ich mir anschaue, wie viele Geschichten ich inzwischen gehört habe, von Männern, die abgehauen sind oder alleinerziehenden Müttern. Den Gesprächen konnte ich entnehmen, dass es in der hiesigen Gesellschaft gar nicht geduldet wird, wenn frau in einer Beziehung ist, sich mit Freunden des anderen Geschlechts trifft. Wohingegen es von anderen Männern eher anerkannt wird, wenn ein Mann vergeben ist und sich mit andern Frauen trifft. Mir persönlich ist aufgefallen, dass Männer hier viel respektvoller mit Frauen umgehen. So geschieht es zum Beispiel selten, dass ein Mann vor der Frau einen Raum betritt. Hier ist es normal, dass man zum Essen eingeladen wird, oder ohne Aufforderung bis zur Haustür begleitet wird, auch wenn das bedeutet, dass sie einen größeren Umweg auf sich nehmen müssen.


Gott sei Dank habe ich Literatura hispanoamericana belegt! Da überwiegt der Frauenanteil, sodass ich heute auch endlich mal mit Mädels in meinem Alter in Kontakt kam. Gleich wurde ich zum gemeinsamen Kochen eingeladen und zum abends einen Trinken gehen. Ich bin mal gespannt, wie viel davon tatsächlich ernst gemeint ist. Manchmal wird vorgeschlagen, dass man was zusammen machen könnte, was dann aber doch nicht verbindlich ist. Wenn das so weiter geht, dann habe ich gar keine Zeit mehr, was für die Uni zu erledigen…


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen